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Sinti und Roma


Die im Dörfle ansässige Familie Reinhardt, hinten v. l. Sohn Johann, Vater Karl, Mutter Katharina, vorne Sohn Josef, Tochter Veronika und Sohn Georg Reinhardt, es fehlt Sohn Anton, um 1938, Archiv Michail Krausnick.

Sinti und Roma

Als die Nationalsozialisten Sinti und Roma aus rassischen Gründen verfolgten, konnten sie an eine jahrhundertealte Diskriminierung der "Zigeuner" anknüpfen. Auch noch im demokratischen Freistaat Baden hatte der Staat ein besonderes Augenmerk auf diese Bevölkerungsgruppe gerichtet. 1923 wurde eine Fingerabdruckkartei in der Abteilung "Zigeuner" des neu gegründeten Landespolizeiamts angelegt und Sinti und Roma verpflichtet, einen mit einem "Z" und ihrem Fingerabdruck versehenen Ausweis bei sich zu führen. Die Abteilung "Zigeuner" wurde 1933 in "Zigeunernachrichtendienststelle" umbenannt. Die Zuständigkeit für das "Zigeunerwesen" lässt sich ab 1938 nicht mehr im Karlsruher Adressbuch nachweisen, auch der für die Deportation der Karlsruher Sinti und Roma 1940 zuständige Gendarmeriebeamte Max Regelin taucht nun nicht mehr auf.

Ein Teil der Karlsruher Sinti und Roma, deren genaue Zahl nicht bekannt ist, wohnte inzwischen in der Altstadt, im so genannten "Dörfle", darunter auch die Familie Reinhardt, von deren vier Söhnen nur der jüngste Josef Reinhardt überlebte. Als Mitte Mai 1940 die von Heinrich Himmler angeordnete "Zigeunerdeportation" begann, lag die reichsweite Leitung der Aktion bei dem vormaligen Leiter der Karlsruher Zigeunernachrichtenstelle Paul Werner, eine zentrale Person bei der Durchführung der Verfolgungsmaßnahmen. Werner war von 1933-1936 Leiter des Landeskriminalpolizeiamts in Karlsruhe. Vor Ort in Karlsruhe organisierte Max Regelin die Aktion. Die zur Deportation ausgewählten Sinti-Familien wurden im Polizeipräsidium am Marktplatz zusammengetrieben und von dort mit Lastkraftwagen in ein Sammellager, das Zuchthaus Hohenasperg, gebracht. Dort mussten sie eine Erklärung unterschreiben, die klar machte, dass eine Rückkehr nicht vorgesehen war. Von Hohenasperg aus wurden sie in das Generalgouvernement Polen nach Jedrzejow verschleppt und die meisten in Ghettos, Konzentrations- oder Arbeitslager aufgeteilt, wo sie zunächst Zwangsarbeit leisten mussten und wo später viele ermordet wurden. Nur wenige der Deportierten kamen nach dem Krieg zurück.

Der Leidensweg der Sinti und Roma endete nicht im Jahr 1945 mit dem Ende des Nationalsozialismus - sowenig wie er erst mit der Machtübernahme 1933 begonnen hatte. So beurteilte der Bundesgerichtshof 1956 das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen Sinti und Roma vor dem Jahr 1943 als "vorbeugende Verbrechensbekämpfung". Auf dieser Basis stellte das Landesamt für Wiedergutmachung fest, dass die 1940 "durchgeführte Umsiedlung der Zigeuner keine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme aus Gründen der Rasse" war.

Auch in Karlsruhe war die Verfolgung der Sinti und Roma lange kein öffentliches Thema. Akten und Zeitungsberichte halten Beschwerden über "Zigeuner" und die Einrichtung von Landfahrerplätzen fest, mit der Geschichte der Sinti und Roma und deren Verfolgung befasste man sich aber erst Ende der 1980er-Jahre. Die Stadt unterstützte den Verband der Sinti und Roma bei der Herausgabe der Broschüre von Michail Krausnick und war Mitveranstalter der Gedenkveranstaltung am 20. Mai 1990 im städtischen Kongresszentrum. Am Polizeipräsidium wurde in den 1990er-Jahren im Rahmen der stadtweiten Beschilderung eine historische Tafel angebracht, die auf die Deportation der Sinti und Roma 1940 hinweist.

Ernst Otto Bräunche 2015

Literatur

Michail Krausnick: Abfahrt Karlsruhe. 16.5.1940 - Die Deportation der Karlsruher Sinti und Roma, mit einem Nachtrag: Sinti und Roma - Geschichte und Erinnerungskultur in Karlsruhe von Ernst Otto Bräunche, S. 93-99, 2., überarb. Aufl., hrsg. vom Stadtarchiv Karlsruhe, Ubstadt-Weiher u. a. 2015; Vanessa Hilss: Sinti und Roma. "Nicht aus Gründen der Rasse verfolgt"? Zur Entschä­di­gungs­pra­xis am Landesamt für Wieder­gut­ma­chung Karlsruhe, Karlsruhe 2017 = Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte. Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe Bd. 17); Johannes Kaiser: Verfolgung von Sinti und Roma in Karlsruhe im Natio­nal­so­zia­lis­mus. Die städtische und krimi­nal­po­li­zei­li­che Praxis, Karlsruhe 2020 (= Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte. Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe Bd. 18).