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Beamtenstadt Karlsruhe


Beamtenstadt Karlsruhe

Karlsruhe als Beamtenstadt zu bezeichnen ist ein bis in die Gegenwart benutztes Etikett, das lediglich für das 19. Jahrhundert eine statistisch relevante Basis hatte. Im 18. Jahrhundert, als die neue Residenzstadt der kleinen Markgrafschaft Baden-Durlach noch auf- und ausgebaut wurde, bestimmten Handwerker und Händler die Sozialstruktur der Gemeinde. Unter den hausbesitzenden Bürgern zwischen 1720 und 1754 machten sie etwa 75 % aus. Die restlichen 25 % setzten sich aus Adligen und Hofbediensteten aller Ränge zusammen. Zu dieser Zeit trug Karlsruhe am ehesten den Charakter einer vom Schloss abhängigen Gewerbestadt.

Eine deutliche Veränderung der Erwerbsstruktur der Bevölkerung setzte mit der Vergrößerung der Markgrafschaft 1771 und der Bildung des Großherzogtums 1806 ein. Der Ausbau Karlsruhes zur Hauptstadt eines Mittelstaates führte zum Zuzug zahlreicher Adliger und Hofbediensteter sowie von Soldaten und Zivilbeamten. 1801 machten Beamte aller Art mit ihren Angehörigen 40 % der Bevölkerung aus, wobei das erst 1812 eingemeindete Dörfle mit seiner Unterschichtsozialstruktur bereits mitgezählt wurde. Nur etwa 17 % der 8.721 Einwohner zählten in diesem Jahr zur "industriösen Klasse". 1858 verdankten immer noch 35 % der knapp 26.000 Menschen in Karlsruhe ihren Lebensunterhalt unmittelbar einer Beschäftigung am Hof oder bei der Landesverwaltung. Hofstaat, Militär und Beamtenschaft bestimmten das Leben in der Stadt, drückten ihr den Stempel einer Beamtenstadt auf.

Mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat erneut ein grundlegender Wandel der Beschäftigungsstruktur der rasant wachsenden Bevölkerung ein. Gemäß der nun differenzierteren statistischen Erhebungen betrug der Anteil der öffentlichen Dienste 1907 nur noch etwa 15 % und der Anteil der in Industrie und Handwerk Beschäftigten etwa 43 %, in den Bereichen Handel und Verkehr waren etwa 24 % tätig. Ohne Berufe, dazu zählten Rentner und Studenten, waren 13 % der Gesamtbevölkerung. Je nach Gewichtung der Anteile durch unterschiedliche Autoren war Karlsruhe vor dem Ersten Weltkrieg Industrie- oder Dienstleistungsstadt. Der vergleichsweise höhere Anteil der Beamten und Rentner ist dabei dem Sitz der Landesregierung und bedeutender Bildungseinrichtungen sowie der starken Bahn- und Postverwaltung geschuldet.

Nach dem Ersten Weltkrieg verschob sich durch Verluste von Industrie- und Handwerksarbeitsplätzen auf nur noch etwa 36% infolge des Verlustes des Absatzmarkts Elsass-Lothringen, das wieder zu Frankreich gehörte, und durch die Zunahme von Arbeitsplätzen in Handel und Verkehr auf 33 % bei geringer Abnahme der Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf 14% die Charakteristik der Stadt zum Dienstleistungs- und Handelszentrum.

Die Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spiegelt den Wandel der Erwerbsstruktur in der Bundesrepublik. Im produzierenden Gewerbe sank der Anteil der Beschäftigten von 1950 bis 2013 von 40 % auf 17,9 %, im Bereich Handel und Verkehr sank der Anteil deutlich geringer von 26,1 % auf 19,1 %. Bei den Dienstleistungen verdoppelte sich dagegen der Anteil der Beschäftigten von 31,5 % auf 63,1 %. Mit 9,2 % nehmen Information und Kommunikation dabei den zweiten Rang ein.

Der Anteil der Beamten an der Zahl der Beschäftigten lag seit den 1950er-Jahren bei etwa 10 %. Bei der Volkszählung von 1987 konnte ermittelt werden, dass davon ein Drittel in Hochschul- und Schuleinrichtungen, in Institutionen von Wissenschaft, Kultur, Kunst und Sport sowie ein Fünftel in Behörden des Verkehrs und der Nachrichtenübermittlung arbeiteten. Die Hälfte dieser Beamten war somit im modernen Verständnis dem Dienstleistungssektor zuzurechnen. Karlsruhe präsentiert sich daher nach dem Zweiten Weltkrieg trotz des Zuwachses an obersten Bundesbehörden wie dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht nicht als Beamtenstadt sondern als modernes Dienstleistungszentrum mit einer gemischten Erwerbs- und Wirtschaftsstruktur. Wenn Karlsruhe dennoch gelegentlich abwertend als Beamtenstadt bezeichnet wird, so resultiert das eher aus subjektiven Wahrnehmungen. Unberücksichtigt bleibt dabei zudem, dass ein Großteil jener kreativen Köpfe, auf die Karlsruhe seine Tradition als Zentrum von Innovation und Technologie gründete und gründet, Beamte waren und sind.

Manfred Koch 2015

Literatur

Christina Müller: Karlsruhe im 18. Jahrhundert. Zur Genese und zur sozialen Schichtung einer residenzstädtischen Bevölkerung, Karlsruhe 1992 (= Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte. Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe Bd. 1); Manfred Koch: Beamtenstadt Karlsruhe? Erwerbsstruktur und Städtetypologie, in: Manfred Koch/Leonhard Müller: Blick in die Geschichte. Karlsruher stadthistorische Beiträge 1988-1993, Karlsruhe 1994, S. 50-53, Buch zum Download (PDF) (Zugriff am 27. Juli 2022); ders.: Trümmerstadt – Residenz des Rechts – Zentrum der Technologieregion. Wechselvoller Weg in die Gegenwart, in: Karlsruhe. Die Stadtgeschichte, Karlsruhe 1998, S. 618-623, Buch zum Download (PDF) (Zugriff am 27. Juli 2022).